Zu den wichtigsten Anforderungen an wissenschaftliches Publizieren – auch in digitaler Form – gehört, dass die Veröffentlichungen integer im Sinne von unverletzlich, datenstabil und konsistent sind. Anders als auf den meisten Websites, wo es nicht nur problemlos möglich, sondern auch üblich ist, Inhalte mehr oder weniger stillschweigend zu modifizieren, aktualisieren oder depublizieren, ist es ein Qualitätsmerkmal wissenschaftlicher Publikationsorgane, jede Änderung nach der Veröffentlichung transparent nachzuweisen und zu begründen. Dies stellt wissenschaftliche Zeitschriften vor die Herausforderung, klare Regeln für nachträgliche Veränderungen, Korrekturen oder den Rückzug von Artikeln aufzustellen. Dieser Beitrag zeigt, wie das Open Gender Journal dies in der Redaktionsarbeit umsetzt.
Dass die Entwicklung einer eigenen Umgangsweise mit Revisionen und Rücknahmen überhaupt Teil der Redaktionsarbeit ist, liegt am „Betriebsmodell“ der Zeitschrift. Das Open Gender Journal ist eine wissenschaftsgeleitete Diamond-Open-Access-Zeitschrift für die intersektionale Geschlechterforschung. Die Zeitschrift wird von vier Gender-Studies-Einrichtungen gemeinsam mit der Fachgesellschaft Geschlechterstudien herausgegeben. Sie erscheint seit 2017 – zunächst verlagsunabhängig; seit 2024 ist sie Teil des Programms des Open-Access-Universitätsverlags Berlin Universities Publishing. Die Verantwortung für den Betrieb der Zeitschrift trägt in erster Linie die Redaktion, die sich aus Fachredakteur*innen sowie dem Editorial Management zusammensetzt. Dies hat zur Folge, dass beispielsweise Anfragen nach Korrekturen bereits publizierter Beiträge bei der Redaktion landen, von dieser entschieden, mit Hilfe des Redaktionssystems Open Journal System (OJS) umgesetzt und verantwortet werden müssen. Die Zeitschrift kann sich dabei nicht auf eine etablierte Verlagspraxis berufen oder die Anfrage an eine Fachabteilung des Verlages delegieren.
Aus diesem Grund war die Beschäftigung mit Artikelversionierung Teil eines Arbeitsschwerpunktes zur Erweiterung der Services und Verbesserung von Workflows für das elektronische Publizieren in einem DFG-geförderten Expansionshilfe-Projekt der Zeitschrift.1 Ausgehend von der ab Version 3.2 von OJS zur Verfügung stehenden Möglichkeit der Versionierung von Artikeln, der Auseinandersetzung mit Guidelines der Coalition of Publication Ethics (COPE) und konkreten Anwendungsfällen hat sich das Projekt intensiv mit der Frage beschäftigt, wann und wie das Open Gender Journal Änderungen an veröffentlichten Artikeln vornimmt. Ziel dieses Beitrags ist es, die Erkenntnisse des Open Gender Journal im Sinne eines kollektiven Aufbaus von Kompetenzen mit anderen wissenschaftsgeleiteten Zeitschriften zu teilen und unsere Vorgehensweise zur Diskussion zu stellen.
Ausgangslage
Die Ausgangslage ist dabei folgende: Grundsätzlich sperrt das Redaktionssystem ab OJS 3.2 nach der Veröffentlichung eines Artikels die Bearbeitungsmöglichkeit. Der Ist-Zustand von Artikel-Datei(en) sowie der Metadaten zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wird auf diese Weise festgeschrieben. Dies ist einerseits wünschenswert, denn zu guter wissenschaftlicher Praxis gehört die „integrity of the publishing record“. Sie ist ein wichtiger Faktor für die Vertrauenswürdigkeit digitaler Publikationen.
Andererseits gibt es verschiedene Anlässe, Artikel doch noch einmal überarbeiten zu wollen: Diese reichen von Flüchtigkeitsfehlern der Verfasser*innen oder der Redaktion, die im Lektorat übersehen worden sind, bis hin zu wissenschaftlichem Fehlverhalten, das eine kommentierte Korrektur oder die Rücknahme eines Artikels nach sich ziehen muss. Darüber hinaus sind Änderungen und Fehler, die Pronomen und neue Vornamen betreffen, ein wichtiges Thema in unserer Redaktionspraxis, das zugleich einen Sonderfall darstellt: In vielen Fällen würde ein transparenter Umgang mit Namensänderungen das Outing der betroffenen Person bedeuten. Ein sensibler Umgang mit Namensänderungen ist ein besonderes Anliegen unserer Zeitschrift, betrifft aber auch im Kontext aktueller rechtlicher Entwicklungen alle wissenschaftlichen Publikationsorgane gleichermaßen.
Ab OJS-Version 3.2 stehen zwei Möglichkeiten der Korrektur zur Verfügung: Versionierung und Depublikation. Beide Möglichkeiten haben unterschiedliche Auswirkungen auf die „integrity of the publishing record“. Wie diese durch OJS, aber auch die Redaktion abgemildert werden (können), wird im Folgenden diskutiert.
Transparente Korrektur durch Versionierung
Sowohl Autor*innen als auch Redakteur*innen können im Redaktionsalltag Fehler machen. Ein konkretes Beispiel aus unserer Arbeit: Einer Autorin fiel nach der Veröffentlichung auf, dass sich trotz mehrere Korrekturschleifen in einer Überarbeitung ein fehlübersetzter Begriff eingeschlichen hatte. Ähnliche Fälle wären versehentliche Zahlendreher oder fehlerhafte Literaturangaben. Wenn ein solcher Fehler auffällt, ist das Editorial Management erster Adressat für Korrekturwünsche. Es koordiniert oder übernimmt alle weiteren Schritte.
Gemäß der Publikationsethik des Open Gender Journals werden unbeabsichtigte Fehler durch Versionierung korrigiert. Ihr entscheidender Vorteil ist die Nachvollziehbarkeit, die sowohl durch das Redaktionssystem als auch durch das Editorial Management gewährleistet wird.
Durch OJS werden auf der Artikelseite alle Versionen des Artikels mit ihren Veröffentlichungsdaten in einem Infokasten aufgeführt und verlinkt, sodass Lesende die Unterschiede selbst nachvollziehen können. Dabei verhindert OJS Verwechslungen zwischen den Versionen: Die Artikelübersicht verlinkt immer auf die aktuelle Artikelseite samt der Artikel-PDF, auch die DOI verweist dorthin. Wer im Infokasten (Abb. 1) eine ältere Fassung auswählt, wird durch einen Textkasten darüber informiert, dass es eine aktualisierte Version gibt, die auch verlinkt ist. Ruft man dennoch die veraltete Artikel-Datei auf, wiederholt ein roter Banner den Hinweis (Abb. 2).
Für inhaltliche Transparenz sorgt das Editorial Management: Es vermerkt in der Artikeldatei, dass es sich um eine korrigierte Fassung handelt und wann diese veröffentlicht wurde. Zusätzlich zur korrigierten Datei wird entsprechend der Empfehlung von COPE ein Erratum hochgeladen, in dem die Korrektur erläutert wird. Es enthält
- die geänderte Textstelle in der Originalfassung mit einem Hinweis, wo diese Stelle im Artikel zu finden ist;
- die Textstelle in korrigierter Form;
- eine Einschätzung, ob und wie sich die Korrektur auf die Aussage des Beitrags auswirkt, sowie
- eine ausführliche Zitationsangabe, um den eindeutigen Bezug sicherzustellen.
Diese transparente Korrektur ist für kleinere Fehler oder nicht-intendiertes Fehlverhalten passend. Allerdings gibt es auch Fälle, in denen die Originalfassung nicht länger verfügbar bleiben soll. In diesen Fällen greift die zweite Korrekturmöglichkeit, die Depublikation.
Depublikation bei intendiertem wissenschaftlichen Fehlverhalten
Unter schwerwiegenden Fehlern oder intendiertem wissenschaftlichen Fehlverhalten, die einen Rückzug des Beitrags zur Folge haben können, verstehen wir – den Retraction Guidelines von COPE entsprechend – Plagiate, grobe Messfehler oder Datenmanipulation ebenso wie Verstöße gegen Urheber- oder Persönlichkeitsrechte bei Abbildungen. In all diesen Fällen werden die zuständigen Redakteur*innen und Herausgeber*innen vom Editorial Management informiert und in den Prozess mit einbezogen.
Technisch wird dabei zunächst neben der Originalfassung auch die Artikelseite komplett aus dem für Leser*innen sichtbaren Bereich entfernt. Anders als bei der Versionierung gibt es systemseitig keine Transparenzhinweise. Der Nachteil liegt auf der Hand: Wer den Artikel sucht, kann nicht einschätzen, ob eine Entscheidung der Redaktion oder ein technischer Fehler Ursache ist. Und wer bisher noch nichts von dem Artikel wusste, bleibt unwissend. Diese Intransparenz kann nur das Editorial Management durch einen entsprechenden Hinweis ausgleichen. Dafür stellt es im nächsten Schritt die Artikelseite wieder online – ohne Artikel-PDF, stattdessen mit einem Depublikationsvermerk („Retraction Note“), wie er auch von COPE in den Retraction Guidelines empfohlen wird. Analog zum oben beschriebenen Erratum enthält dieser Vermerk eine klare Identifikation des zurückgezogenen Artikels sowie seiner Autor*innen und erläutert, wer für die Depublikation verantwortlich ist und welche Gründe zu der Entscheidung geführt haben.
Ungewollte Outings bei Korrekturen verhindern
In den acht Jahren seit der Gründung des Journals hat es noch keinen Fall gegeben, in dem intendiertes wissenschaftliches Fehlverhalten eine Retraction nötig gemacht hätte. Dennoch haben wir uns bereits dafür entschieden, Artikel zurückzuziehen: wenn in einem Beitrag trans, inter oder nichtbinäre Personen versehentlich mit ihrem abgelegten Vornamen oder falschen Pronomen genannt werden, entweder aus Unwissen oder weil die Änderungen erst nach der Veröffentlichung der Artikel vorgenommen wurden.
Nach unserem beschriebenen Vorgehen liegt daher zunächst die Korrektur per Versionierung nahe. Allerdings blieben dabei der dead name, also der abgelegte Vorname, und/oder das falsche Pronomen in der älteren Fassung für alle Lesenden sichtbar. Die falsch adressierte Person würde weiterhin misgendert, also mit einer Geschlechtsidentität genannt, die ihr nicht entspricht. Lesende könnten sogar erst durch diese Korrektur darauf aufmerksam werden, dass die Person trans, inter oder nichtbinär ist – das Erratum wäre dann ein ungewolltes Outing durch das Journal. Dass ein solches Outing inakzeptabel ist, ist Konsens. Sowohl das mittlerweile abgelöste Transsexuellengesetz als auch das neue Selbstbestimmungsgesetz enthalten ein „Offenbarungsverbot“ (Bundesministerium der Justiz: zum Selbstbestimmungsgesetz). Dieses verbietet Zwangsoutings, um mögliche Schädigungen zu verhindern. Zwar bezieht sich das Offenbarungsverbot nur auf die Beziehung zwischen Staat und Einzelpersonen, dennoch zeigt sich daran, dass der Schutz der Betroffenen sehr hohe Priorität hat.
Ausgehend von diesen Überlegungen zieht das Editorial Management in den geschilderten Fällen die Originalfassung des Artikels zurück und ersetzt sie durch eine korrigierte Neufassung. Systemseitig bleibt dies ohne Transparenzhinweise, auch das Editorial Management fügt keine Erläuterung hinzu. Allerdings zeichnen wir den Artikel auf dem Deckblatt als „korrigiert“ aus, um zumindest minimal auf eine Abweichung hinzuweisen.
Denkbar sind auch andere Fälle, in denen ungewollt personenbezogene Daten veröffentlicht wurden, sodass aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen eine Depublikation nötig ist. Bei einer erneuten Veröffentlichung des korrigierten Artikels darf der Fehler auch in diesen Fällen nicht reproduziert werden. Ihn allgemein zu benennen, outet aber nicht wie im vorangegangenen Beispiel eine Person als Teil einer diskriminierten Gruppe, sondern schafft Transparenz über einen Fehler der Autor*innen und der Redaktion. Entsprechend würde das Editorial Management in einem beigefügten Erratum allgemein darauf hinweisen, dass die Originalfassung aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen korrigiert wurde, diese aber nicht weiter spezifizieren. Grundsätzlich gilt für uns: Wenn es möglich ist, Leser*innen in Form eines Erratums transparent zu informieren, ohne Persönlichkeitsrechte verletzen, kommen wir dem nach.
Metadaten über Schnittstellen korrigieren
Unabhängig davon, welche Änderungsform gewählt und wie diese begründet wird, ist die Korrektur auf der Journal-Website nur der erste Schritt. Zusätzlich muss man bei wissenschaftlichen Publikationen auch bedenken, dass die Metadaten von Beiträgen über verschiedene Schnittstellen geteilt werden. Kommt es zu einer Änderung, muss diese überall erfolgen.
Das Open Gender Journal liefert Metadaten an DataCite, Directory of Open Access Journals (DOAJ) und die Deutsche Nationalbibliothek (DNB). Sowohl bei DataCite als auch bei DOAJ erfolgt die Übernahme der korrigierten Metadaten über eine händische Neuregistrierung der korrigierten Artikel über die Schnittstellen in OJS. Etwas komplizierter ist das Vorgehen bei der DNB, wo neben den Metadaten auch das Artikel-Dokument zum Zweck der Langzeit-Archivierung übertragen wird: Hierzu stellt das Editorial Management über den Katalog eine Korrekturanfrage und übermittelt anschließend die Metadaten sowie das Artikel-Dokument als Archivobjekt via OJS erneut. Dieser Vorgang dauert zwar länger als bei DataCite und DOAJ, funktioniert jedoch erfahrungsgemäß zuverlässig.
Darüber hinaus bietet OJS weitere Schnittstellen an, die vom Open Gender Journal nicht genutzt werden, die aber eigene An- und Herausforderungen stellen. Zu nennen ist dabei beispielsweise die SWORD-Schnittstelle, die OJS mit DSpace Repositorien verknüpft, sowie die öffentlich verfügbare OAI-PMH Schnittstelle. Bei letzterer haben Journals keine Kontrolle darüber, wer darüber Metadaten sammelt und können so auch keine Aktualisierungen anstoßen.
Fazit
Grundsätzlich besteht der Anspruch, einmal publizierte Artikel unangetastet zu lassen. Das Open Gender Journal verfolgt deshalb das Ziel, Korrekturen nur in Ausnahmen und dabei so transparent wie möglich vorzunehmen. Dabei lässt sich bei keiner der beschriebenen Varianten komplett ausschließen, dass der korrigierte bzw. zurückgezogene Artikel weiterhin in der ursprünglichen Fassung zirkuliert. Wir können beispielsweise nicht verhindern, dass eine private Kopie eines Beitrags abgespeichert und später auf einer Lernplattform geteilt wird, obwohl es mittlerweile eine neue Fassung gibt. Lesende sollten jedoch, wann immer es ethisch vertretbar ist, dazu in die Lage versetzt werden, Versionen einzusehen und/oder ergänzende Dokumente zu finden, die aufschlüsseln, welche Textstellen wie und aus welchen Gründen geändert wurden. Von dieser Orientierung an größtmöglicher Transparenz weichen wir allerdings ab, wenn wir den Schutz der betroffenen Personen höher bewerten als die Nachvollziehbarkeit für Dritte. Daher depublizieren wir in diesen Fällen die diskriminierende Textfassung und reproduzieren die entsprechende Textstelle nicht in einem Erratum.
Der forschungsethische Umgang mit Fehlern in bereits publizierten Artikel ist eine Herausforderung, mit der sich die Herausgebenden und Redaktionen wissenschaftsgeleiteter Zeitschriften selbst intensiv auseinandersetzen müssen. Dies ermöglicht jedoch, Lösungen zu finden, die dem Stand guter wissenschaftlicher Praxis sowie den publikationsethischen Ansprüchen der eigenen Community entsprechen und auf spezifische Herausforderungen reagieren, wie sie sich etwa am hier diskutierten Beispiel geänderter Namen und Pronomen ergeben. Mit Sicherheit lässt sich die Lösung des Open Gender Journals nicht auf jede Zeitschrift übertragen, die Open Journal Systems als Redaktionssystem einsetzt. Die Geschlechterforschung steht vor anderen Fach- und kontextspezifischen Herausforderungen als etwa Pharmazie, Mathematik oder Regionalstudien.
Das Thema Versionierung ist eines von vielen, das zeigt, dass für die Redaktionsarbeit in nicht-kommerziellen, wissenschaftsgeleiteten Open-Access-Modellen Ressourcen zur Verfügung stehen müssen, um sich intensiv in solche Fragestellungen einzuarbeiten, Policies zu entwickeln, die Vorgehensweise so zu dokumentieren, dass Verfahrensweisen unabhängig von einzelnen Personen genutzt und möglichst auch mit anderen Zeitschriften geteilt werden können.
Autorinnen
Kathrin Ganz (Freie Universität Berlin, Margherita-von-Brentano-Zentrum, https://orcid.org/0000-0003-3968-3470) arbeitet für das Fachrespositorium GenderOpen und leitet die Redaktion des Open Gender Journal.
Sabrina Schotten (Freie Universität Berlin, Margherita-von-Brentano-Zentrum, https://orcid.org/0000-0003-3924-0303) ist Teil des Editorial Managements des Open Gender Journals.
Zitiervorschlag
Ganz, Kathrin; Schotten, Sabrina. „Integrität im wissenschaftlichen Publizieren: Der Ansatz des Open Gender Journals zu Artikeländerungen“. Blog der DINI AGs, 2024. https://doi.org/10.57689/DINI-BLOG.20240805
Fußnoten
- Open Gender Journal – Expansionshilfe (Projektnummer 471748397): Projektleitung: Prof. Dr. Martin Lücke, Margherita-von-Brentano-Zentrum, FU Berlin und Prof. Dr. Susanne Völker, Zentrale Einrichtung Gender Studies in Köln, Universität zu Köln; Laufzeit 07/2022 – 10/2024. ↩︎
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